Lk 5, 17-26
Im heutigen Evangelium begegnen wir einem gelähmten Menschen, der nicht aus eigener Kraft zu Christus gelangen kann. Er liegt still, unfähig sich zu bewegen, und doch geschieht etwas Entscheidendes: er wird von seinen Mitmenschen getragen. Einige Männer nehmen sein Bett, öffnen das Dach und lassen ihn vor den Herrn hinab.
In diesem Bild zeigt sich ein Geheimnis des menschlichen Lebens. Das Geheimnis des menschlichen „Ich“ liegt darin, dass es ohne ein „Du“ gar nicht existieren kann. Niemand wird Mensch im Alleinsein. Wir werden erst zu uns selbst, wenn wir erkannt werden. Mein Ich erwacht erst im Blick des anderen, in seiner Antwort auf meine Existenz. Allein bin ich nichts als ein geschlossener Kreis. Doch sobald ein anderer Mensch mich wahrnimmt, sobald Zuwendung in mein Leben tritt, beginnt mein Dasein.
unus christianus, nullus christianus – ein Christ allein ist kein Christ, sagte der Theologe Tertullian noch im 2. Jahrhundert. Diese Worte sind nicht nur ein Denkspruch, sondern eine theologische Wahrheit. Der Glaube ist von seinem Wesen her Beziehung, er kann nicht in der Abgeschlossenheit bestehen. Wer Christus angehört, gehört immer auch zu Seinem Leib, zur Gemeinschaft der anderen. Niemand kann den Herrn nur „für sich“ lieben, so wie niemand im Glauben wachsen kann, ohne sich dem anderen zu öffnen.
Unser Bedürfnis nach Gemeinschaft ist also nicht bloß ein sozialer oder psychologischer Aspekt. Es ist Ausdruck unseres Seins – unserer Gottesebenbildlichkeit. Wir sind geschaffen als Wesen der Beziehung, weil Gott selbst Beziehung ist: Vater, Sohn und Heiliger Geist – eine vollkommene Gemeinschaft der Liebe. Das bedeutet: Wenn wir den anderen Menschen meiden, wenn wir uns verschließen, dann treten wir aus dem Rhythmus des göttlichen Lebens heraus. In der Begegnung mit dem anderen begegnen wir der Ikone Gottes; im Du entdecke ich Gott, der mich zum Leben ruft.
Darum sind auch die beiden größten Gebote, die Christus nennt, untrennbar miteinander verbunden: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen“ – und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ sind keine zwei verschiedenen Wege, sondern ein einziger: Ich liebe Gott, indem ich meinen Mitmenschen liebe.
Das Leben Jesu ist der vollkommenste Ausdruck dieser Wahrheit. Er lebt nicht für sich, sondern immer für den Vater und für die Menschen. Jede Begegnung im Evangelium ist Beziehung, ist Hinwendung, ist Gemeinschaft. Er heilt, indem Er berührt; Er vergibt, indem Er ansieht; Er rettet, indem Er sich schenkt. Im 1. Johannesbrief sagt er deshalb: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner.“ (1. Joh 4, 20) Wer den Bruder meidet, meidet zugleich das Bild Gottes in ihm.
In der heutigen Erzählung sieht Christus den Glauben nicht nur den des Gelähmten, sondern den seiner Freunde. Sie tragen den Kranken, sie öffnen ein Dach, sie schaffen Raum, wo keiner mehr war.
Damit sind wir bei einem bemerkenswerten Detail der Erzählung. Die Evangelien berichten, dass sie das Dach öffneten und den Gelähmten hinabließen. Heute klingt das unmöglich. Im Palästina des 1. Jahrhunderts, wo diese Szene spielt, bestanden die Häuser der einfachen Bevölkerung meist aus Lehmziegeln und flachen Dächern. Die Dächer waren nicht aus Ziegeln und Zement, wie wir sie heute kennen, sondern bestanden aus Holzbalken, die quer über die Mauern gelegt wurden. Darüber kamen Schilfrohr, Äste und Palmblätter, die anschließend mit Lehm oder Ton bestrichen und festgetreten wurden, sodass eine begehbare, aber leicht lösbare Decke entstand.
Wenn Lukas schreibt, sie stiegen „aufs Dach und ließen ihn durch die Ziegel auf dem Bett hinunter in die Mitte vor Jesus hin.“, dann beschreibt das also eine aufwendige und körperlich anspruchsvolle, aber praktisch mögliche Handlung.
Die Evangelisten beschreiben diese Handlung nicht nur, um die Tatkraft der Freunde zu zeigen. Das Öffnen des Daches hat eine tiefe symbolische Bedeutung.
In der Bibel ist das Dach immer wieder ein Ort der Grenze zwischen Himmel und Erde. Es ist buchstäblich die obere Grenze des Hauses, die Trennung zwischen dem Innenraum des Menschen und dem offenen Himmel Gottes. Indem die Freunde das Dach öffnen, durchbrechen sie diese Grenze – sie schaffen einen Durchgang von der menschlichen Enge zur göttlichen Weite.
Sie geben nicht auf, als sie vor der verschlossenen Tür stehen. Sie denken anders. Der Glaube sucht Wege, wo keine sind. Er klettert, er öffnet, er lässt sich nicht durch äußere Hindernisse aufhalten. In diesem Mut zeigt sich, dass echter Glaube aktiv ist – er ist nicht bloß Zustimmung, sondern Handlung aus Vertrauen.
Christus blickt auf den Gelähmten – und auf seine Freunde. Er sieht den Glauben. Nicht als Gedanke, sondern als Bewegung. Und Er spricht das entscheidende Wort: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Damit geschieht die eigentliche Heilung. Denn die tiefste Lähmung ist nicht die körperliche, sondern die geistliche – die Lähmung des Herzens, das sich verschlossen hat. Der Mensch kann äußerlich gesund sein, aber innerlich unbeweglich, kalt, gleichgültig. Christus heilt zuerst das Innere, den Ort der Trennung von Gott, bevor Er den Körper aufrichtet. Er beginnt da, wo der Mensch am meisten gefangen ist: in seiner Schuld, in seiner Angst, in seiner Einsamkeit.
Dann folgt das erlösende Wort: „Ich sage dir: Steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“
In diesem Augenblick geschieht eine kleine Auferstehung. Der Gelähmte steht auf. Er nimmt das Bett, das ihn getragen hat, und trägt es nun selbst. Was ihn einst festhielt, wird zum Zeichen seiner Freiheit. Es ist ein Bild des Kreuzes: Es war ein Zeichen der Erniedrigung, das Christus selbst in ein Zeichen des Sieges verwandelt hat. Was zuvor Sinnbild des Leidens und des Todes war, wurde durch die Liebe Gottes zum Holz des Lebens, zum Sinnbild der endgültigen Freiheit und Erlösung.
Der Gelähmte und seine Freunde sind ein lebendiges Bild dessen, was Kirche bedeutet: Menschen, die einander zu Christus tragen. Ihre Liebe und ihr Mut werden zum Werkzeug des Heils. Sie lassen sich nicht aufhalten von der Menge, nicht entmutigen von den Hindernissen, nicht abschrecken durch die Enge.
Dieses Evangelium ist nicht bloß ein Bericht über ein vergangenes Wunder, sondern ein Ruf an jeden von uns. Wo bin ich gelähmt? Wo habe ich aufgehört zu glauben, dass Gott etwas Neues in mir tun kann? Und wer sind die Menschen, die Gott mir gegeben hat, um mich zu tragen – und die, die ich selbst tragen soll?
Christus geht auch heute durch unsere Welt. Er bleibt stehen bei jedem Menschen, der nicht weiterkann, und sagt: „Steh auf, nimm dein Bett und geh heim.“ Er ruft uns heraus aus der Schuld, aus der Mutlosigkeit, aus der inneren Starre. Er will, dass wir heimkehren – in das Haus unseres Herzens, das er selbst ist.
Das Evangelium vom Gelähmten ist eine Einladung: Öffne dein Herz, lass dich tragen und trage. Hab den Mut, das Dach deiner Seele zu öffnen, damit Christus dich berühren kann. Und wenn wir das tun, dann wird das Wort Christi auch in uns wahr: „Steh auf und geh – dein Glaube hat dich gerettet.“
Amen.