Heute hat die Kirche uns durch das heilige Evangelium ein Wort dargeboten, das uns alle betrifft – nicht nur im äußeren Verhalten, sondern im Innersten des Herzens. Es ist ein Ruf zur Rückkehr in unsere wahre Berufung als Menschen – in das ursprüngliche Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung, zwischen Mensch und Gott, und zwischen Mensch und Mensch. Wenn Christus sagt:
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ (Mt 7,1)
dann vermittelt er uns nicht einfach nur eine moralische Norm, es geht vielmehr um die Frage: wer wir sind – und wer Gott ist.
Der Mensch, geschaffen als Abbild Gottes (Gen 1,26), ist berufen zur Gemeinschaft, zur Liebe, zur Mitschöpfung und zur Fürsorge. Doch die Versuchung, selbst wie Gott sein zu wollen, liegt tief in der menschlichen Existenz, deshalb nehmen wir oft zu leichtsinnig die Rolle des Richters gegenüber anderen Menschen ein. Und so wird das Richten – das Bewerten und Aburteilen des anderen – zur Anmaßung eines göttlichen Amtes, das dem Menschen nicht zusteht.
Wenn wir richten, erheben wir uns über unseren Stand – wir reißen die Trennung ein zwischen Geschöpf und Schöpfer. Wir verletzen das Verhältnis, das uns mit Gott verbindet. Der Heilige Gregor von Nazianz sagt:
„Erkenne deinen Rang, Mensch: Du bist geschaffen, nicht Schöpfer. Du bist geliebt, nicht der Ursprung der Liebe.“
Die Worte Christi rufen uns zur Umkehr von einem der gefährlichsten Laster: dem Hochmut des richtenden Herzens. Es ist leicht, über den anderen zu urteilen. Es ist leicht, den Splitter im Auge des Bruders zu sehen. Doch der Herr fragt uns:
„Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ (V. 3)
und erstellt eine Diagnose über den menschlichen Zustand überhaupt: Unsere eigene Selbstwahrnehmung ist getrübt – durch Stolz, durch Eitelkeit, durch geistliche Blindheit. Wir meinen, den anderen klar zu sehen – und übersehen, wie trüb unser eigenes inneres Auge geworden ist.
Denn das Gericht, das wir über andere fällen, wird auch über uns gefällt werden – nicht nur von Gott, sondern oft schon im hier und jetzt, von den Menschen, und sogar vom eigenen Gewissen.
Wir haben eben in der Apostellesung gehört:
„Wir wissen, dass das Gesetz alles, was es sagt, zu denen sagt, die unter dem Gesetz sind, damit jeder Mund verstopft werde und die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sei. Denn kein Mensch wird vor ihm gerecht sein durch Werke des Gesetzes.“ (Röm 3,19–20)
Das ist eine gewaltige Aussage: Niemand kann vor Gott bestehen aufgrund seiner eigenen Gerechtigkeit.
Wenn wir also richten, wenn wir den Splitter im Auge unseres Bruders betrachten, dann handeln wir, als wären wir ausgenommen von diesem Wort. Als hätten wir selbst das Gericht Gottes nicht nötig.
Erst wenn wir unseren eigenen Balken erkennen – unsere Schwächen, unsere Verletzlichkeit, unsere Wunden – können wir dem Mitmenschen wirklich helfen. Denn dann helfen wir nicht mehr von oben herab, sondern von Mensch zu Mensch, von Sünder zu Sünder, von Herz zu Herz.
Das Evangelium sagt nicht: „Lass den Splitter im Auge des anderen.“, sondern:
„Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.“
Das heißt: Wahre Hilfe beginnt mit Demut.
Nicht das Helfen am Bruder ist verboten. Der Apostel Paulus ruft uns auf, die Lasten unserer Mitmenschen zu tragen uns so das Gesetz Christi zu erfüllen (Gal 6,2) – sondern das heuchlerische Helfen, das nicht aus Demut, sondern aus Stolz geschieht. Das Gesetz Christi ist nicht das Gesetz des Richtens, sondern das Gesetz der Liebe. Das Kreuz ist nicht das Symbol des Gerichts, sondern der Selbsthingabe.
Und so endet das Evangelium heute nicht mit einer Forderung, sondern mit einer Verheißung:
„Bittet – und es wird euch gegeben; sucht – und ihr werdet finden; klopft an – und es wird euch geöffnet.“ (Mt 7,7)
Hier zeigt Christus uns den Weg, den ein Mensch gehen soll, der sich selbst erkannt hat:
Er richtet nicht – er bittet. Er verurteilt nicht – er sucht. Er erhebt sich nicht – er klopft.
Lasst uns aus diesem Evangelium lernen, was es heißt, Mensch zu sein – als Geschöpf, nicht als Richter.
Lasst uns erkennen, dass unsere Würde nicht darin besteht, über andere zu urteilen, sondern darin, ihre Lasten zu tragen.
Lasst uns vertrauen, dass Gott sich finden lässt, wenn wir Ihn suchen – nicht mit Stolz, sondern mit einem zerknirschten und demütigen Herzen.
Denn wahrlich – wie der Herr sagt:
Wer bittet, der empfängt. Wer sucht, der findet. Und wer anklopft, dem wird geöffnet.
Ihm, unserem barmherzigen Erlöser, sei Ehre und Anbetung mit dem Vater und dem Heiligen Geist in Ewigkeit Amen.